Dienstag, Juni 22, 2010

Diffusion

Ich habe gestern mal schnell ein Buch gelesen über das sich-Auflösen. Das diffudieren ins Grenzenlose. Also in das, wofür wir ursprünglich gemacht worden sind. Und darin stand dieser Satz: "Wer keine Lust hat, kann gar nichts machen. Überhaupt nichts.", gestern schob ich diesen Satz noch vor mir her wie eine unverhofft gefundene Kostbarkeit. Etwas, das entgegen aller Illusion wahr ist. Heute aber sitze ich in einer Vorlesung, in der die Rücken der Studenten an den Stuhllehnen kleben bleiben vor Hitze und alles Leben diesen Zustand stumpfen Herumwaberns angenommen hat, in dem das Verlangen seinen Höchstpunkt erreicht, sich aber noch nichts bewegt, der Körper noch keine Konsequenzen gezogen hat aus dieser innerlichen Verschiebung. Die Frau neben mir spürt es auch, glaube ich. Sie spürt auch, dass in ihrem Gehirn elektrische Impulse hin und her geschossen werden, die nur noch nicht stark genug sind, die Hände einige Zentimeter nach links zu bewegen.
>Wer Lust hat, kann alles tun<, schießt es mir durch den Kopf. Sie schaut herüber, als hätte sie das gehört und sieht mir auf die Hände, dann in die Augen. >(noch) nicht< will sie vielleicht sagen, als sie mir ein Papierschiffchen rüberschiebt, auf dem mein Name steht. Hand und Hand berühren sich für einen flüchtigen Augenblick und bleiben dann so nah nebeneinander liegen, dass auch das Nicht-Berühren fühlbar wird. Jetzt müsste ein Erdbeben kommen. Ein ganz leichtes. Die Welt soll sagen: "Jetzt macht doch endlich!". Sie schaut mich wieder an, als warte sie auch. Mit Seismographenblick. Schaut auf unsere Hände. Oder nur auf die Uhr.
Wer Lust hat, kann alles tun. Warum entscheiden wir uns dafür, nichts zu tun?

Sonntag, Juni 06, 2010

Living my life in all honesty

Bei sommerlichen Temperaturen in einem vollen Regionalzug zu sitzen und die Abendsonne direkt im Gesicht zu haben, ist in erster Linie eklig, klebrig und ziemlich unangenehm. Aber es hat auch was. Die erschöpften Mienen der Menschen, die unter allem Schweiß und allem Nichtmehrkönnen doch auch froh sind. Weil Sommer ist. Plötzlich. Das hat schon was.

Ich habe diesen wunderbar sonnigen Tag zum größten Teil im Dessauer Stadtpark zugebracht, wo heute der Anhaltische Kirchentag stattfand. Ich habe Vorträge gehört, auf einem Keyboard geklimpert, ein Theaterstück gesehen, gesungen, Kuchen gegessen und mich gefreut. Über die Sonne und das bunte Treiben.
Zu Hause erwartete mich eine ungepackte Tasche und ein Kaktus-Eis, sowie die Aussicht, bei diesen Temperaturen einen Zug besteigen zu müssen. Aber als wir in Leipzig einfuhren, war die Stadt plötzlich ein Leuchten und ich ging zu Fuß nach Hause und nahm nicht die klimatisierte Straßenbahn, die eine dünne Scheibe Glas zwischen mich und den Sommer geschoben hätte. Und dabei finde ich den Stadtsommer unsagbar schön. Es hat etwas zärtliches, wenn die Stadt daliegt, wie ein müdes Tier und ihre Bewohner die Häuser verlassen, voller Fürsorge für das Ungetüm, dem sie jetzt all ihr Lachen, ihr Tanzen, ihr Herzklopfen schenken. Stadtsommer, das sind asphaltwarme Nächte.

Und jetzt genieße ich einen der ersten richtig warmen Abende, indem ich auf dem Balkon sitze, lese, ein kühles Wasser trinke und die Beine hochlege. Es ist nämlich höchste Zeit mal wieder ein bisschen in den Himmel zu schauen und ein paar Tage lang nur für jetztundjetztundjetzt zu leben. In den vergangenen zwei Wochen war ich sehr mit meiner Bachelorarbeit beschäftigt, es war auf einmal nur noch wenig Zeit übrig, aber noch viel zu schreiben. Ich brachte jeden Tag viele Stunden in der Bibliothek zu und schrieb und schrieb. Am Ende ist sie doch noch rechtzeitig fertig geworden. Aber viel Spielraum ist nicht gewesen. Eher weniger als sonst.
Wie sehr mich diese 16 Tage gefordert haben, merke ich erst jetzt wirklich. Ich nehme mir vor, nächstes Mal früher anzufangen und ahne bereits, dass ich es wieder nicht schaffe. Aber es war wirklich kritisch. Vor allem emotional gesehen. Dieses Immer-auf-dem-Sprung sein und nochnichtfertig hat sehr an mir genagt. Umso größer war die Erleichterung, die Arbeit am Dienstag endlich einzureichen. Danach bin ich nach Hause gefahren und wusste nichts mit mir anzufangen. Ich musste ja nicht mehr schreiben. Oder korrekturlesen. Oder so. Also fing ich an, zu lesen. Von allem etwas. Vor wenigen Minuten habe ich die Stieg Larsson Trilogie beendet. "The Picture of Dorian Gray" ist so gut wie durch, Aristophanes' "Die Vögel" wird heute Abend noch beendet und ich habe auch wieder ein paar Kapitel in meinem geliebten "Spieltrieb" gelesen. Denn das mache ich im Juni: Lesen. Ich habe ein paar Bücher zu Hause, die ich gekauft hatte, um meine Englischleseliste ein bisschen aufzustocken und danach werde ich mich ein bisschen der Abteilung für Moderne Literatur in der Germanistik widmen. Ich freue mich drauf. Zwei Bücher pro Woche habe ich mir vorgenommen. Mal schauen, was da so bei rauskommt.

Und was habe ich nun eigentlich im Mai gemacht? Ich wollte ja eigentlich Guerilla Gardening ausprobieren. Aber ehe ichs so richtig bemerkt hatte, war schon der 8., ich hatte die BA-Arbeit am Bein und musste mir irgendwas überlegen, was weniger Zeit kostet. Hab ich auch. Ich habs mir in Münster überlegt auf diesem wundervollen Konzert: Mal nur die Wahrheit sagen. Einen Monat lang.
Ich bin nicht unbedingt eine notorische Lügnerin, aber vieles ist doch irgendwie einfacher, wenn man es nicht ganz so genau nimmt mit der Wahrheit: "Haben Sie schon mit der BA-Arbeit angefangen?", "Bist du sauer auf mich?", "Schläfst du schon?"... Ich habe mich also sehr genau kontrolliert und versucht, immer die Wahrheit zu sagen. Und das war gar nicht so einfach, wie ich es mir vielleicht zu Beginn noch vorstellte. Ganz routinemäßig - ohne darüber nachzudenken - waren viele Wahrheitsmodifikationen schon längst ausgesprochen, bevor ich es bemerkte. In der zweiten Woche habe ich dann angefangen, mich zu korrigieren, wo es ging. Es ist ein seltsames Gefühl für ein paar Wochen ohne Lügen zu leben. Nicht nur gut und befreiend, sondern kompliziert und demontierend. Die Wahrheit genauso unverkrampft und wenig verletzend zu formulieren, wie die vielen kleinen Alltagslügen, ist gar nicht so einfach. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass die Menschen plötzlich in meinem Kopf drin waren. Und da wollte ich sie ganz und gar nicht haben.
Bereichernd war es aber auf jeden Fall. Ich habe sehr deutlich erlebt, dass Wahrheit und Unwahrheit nicht durch klare Grenzen voneinander getrennt sind, sondern in einander verschwimmen. Häufig zumindest. Und ich überlege, ob ich das Projekt vielleicht ausbaue.
Vielleicht.